WTF is Tuntentinte?!

Die Tuntentinte ist untrennbar mit der Homolandwoche verbunden, ein „halbjährliches Ereignis im April bzw. September bei dem sich Homos treffen, die sich als autonome Schwule, linke Schwuchteln, schwule Linke oder so ähnlich bezeichnen, um über Taktik und Strategie und Persönliches zusammen zu diskutieren, um spazieren zu gehen, Croquette zu spielen …“ (Nr. 9).

In der Nullnummer wird als Beweggrund für ein eigenes, schriftliches Organ angeführt: „Die Idee zu diesem Rundbrief ist aus der Unzufriedenheit darüber entstanden, daß viele Diskussionen, die zu schwulen Themen im besonderen und im allgemeinen geführt werden, kein Forum haben, wenige unsere informellen Kontakte verlassen und für Außenstehende wenig nachvollziehbar sind. Der Sinn dieses Rundbriefes soll also darin bestehen,
• ein Forum für Diskussionen linker radikaler Schwuler zu schaffen
• eine verbindlichere Diskussion zu führen, die durch die Form des Rundbriefes hoffentlich vielen interessierten Leuten transparent gemacht werden kann
• einzelne Themen auch städteübergreifend jenseits der Landwoche diskutieren zu können
• und nicht zuletzt auch neue inhaltliche Impulse für die Landwoche zu geben, ein Forum für die inhaltliche Vor- und Nachbereitung zu schaffen (im Idealfall)“.

So erblickte die erste Ausgabe der Tuntentinte im November 1994 das Licht, und bis (mutmaßlich) Ende 2003 sollten 23 weitere Ausgaben folgen. Anfangs in Frankfurt a.M. hergestellt, erschien die Tuntentinte alle zwei Monate, ab Nr. 3 wechselte die Redaktion und Postadresse dann in die Herausgeber*innenschaft des Instituts zur Verzögerung und Beschleunigung der Zeit nach Berlin, ab Nr. 19 war sie in Hannover beheimatet. Wurden 1995 noch fünf Ausgaben produziert, reduzierte sich diese Zahl in den Folgejahren und pendelte sich ab 1999 auf 1-2 Ausgaben pro Jahr ein. Die Auflage war immer winzig klein, zu Hochzeiten betrug sie 800 Exemplare (ab der Nr. 17), auch wenn von einer wesentlich breiteren Leser*innenschaft ausgegangen werden kann – und mit diesem Blog ohnehin 😉.

Banner mit Text: "Lebt & Lest Tuntentinte"Die Tuntentinte hatte stets ihren eigenen Charme und Witz, Theorie- und Diskussionsbeiträge lösten sich mit Kochrezepten, Rätseln, Sammelbildern, Comics und Foto-Love-Stories ab. Geschrieben wurde auf Deutsch. Es gab Beiträge aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz. Vertrieben wurde sie in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich über Infoläden, linke Buchläden, autonome Wohn- und Kneipenprojekte, Bauwagenplätze und Privatpersonen.

Verhandelte Themen waren u.a. Homofeindlichkeit in der Linken, Homofeindlichkeit in der deutschen und anderen Gesellschaften, Kritik an Mainstream-schwullesbischer Politik, BDSM, Kommunismus, Coming-out, Antimilitarismus, Antifaschismus, sexualisierte Gewalt, Pädosexualität, homosexuelle NS-Opfer, Prostitution, Patriarchat, Erotik und Pornografie, Antisemitismus, Freundschaft, queer, Wohnformen und Identitätspolitiken. Es gab zudem eine erstaunlich frühe Thematisierung von Inter- und Transgeschlechtlichkeit, was sich auch in der Einladungspolitik der Homolandwoche manifestierte, die ab Mitte der 2000er explizit auch Transmänner einlud: „Die Homolandwoche ist seit jeher ein Treffen von süßen Punkern, perversen Autonomen, ALG2-Tunten, schwulen Transmännern, linken Homos und widernatürlich veranlagten Studenten“.

War die Tuntentinte anfangs noch eine getackerte Sammlung von DIN A4-Blättern, teilweise handgeschrieben und mit vielen Nachdrucken aus anderen Zeitschriften, fand eine stete Professionalisierung statt. Nach 3 Jahren, ab Ende 1997 (Nr. 12), gab es fortan Schwerpunktausgaben mit komplett eigenen Texten und einem professionellen, vereinheitlichten Layout. Zum neuen Konzept heißt es zwei Ausgaben später: „Konzipiert als Rundbrief der Homolandwoche, einem halbjährlichen Treffen linker und linksradikaler Schwuler, sollte sie ein Austauschorgan zwischen den Homolandwochen sein. Ziel war, eine städteübergreifende Diskussion zu ermöglichen, nicht bloß für Teilnehmer der Landwoche. Diese Diskussionen wurden für Außenstehende immer weniger nachvollziehbar. Umgekehrt erschien vielen der Rahmen der Tuntentinte als zu offiziell und anonym, um darin Persönliches mitzuteilen. Um diesen zwei unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, haben wir das Konzept seit ca. einem Jahr verändert“. Fortan gab es den bereits erwähnten Schwerpunkt, Themen außerhalb des Schwerpunkts (aktuell Politisches, schwule/lesbische/queere Diskussionen jenseits des Mainstreams), feste Rubriken (Rezepte, Rätsel, radi.OA.ton-Serviceseite, Kolumne) und Homoland im Spiegel (Diskussionen, AGs, Einladung, …).
Ebenfalls ab der Nr. 12 gab es den „Intimteil“, der auf andersfarbigem Papier nur an die Abonent*innen ging, die an den letzten beiden Homolandwochen teilgenommen hatten. Um diesen „zu verstehen, ist es nötig, die Diskussion auf den Homolandwochen über längere Zeit verfolgt zu haben. Sie soll auch die vertraute Atmosphäre herstellen, in der ein sehr persönlicher Umgang mit dem Erlebten möglich ist“, heißt es in der Nr. 13.

Eine erneute Wendung nahm die Tuntentinte mit einer neuen Redaktion Anfang 2001 mit der Nr. 19. Diese saß in sieben verschiedenen Orten und hatte ihre Postadresse in Hannover. Herausgegeben wurde die Zeitschrift nunmehr vom Kosmetischen Institut für die innere Schönheit der Tunte und dem Komitee für das Gute und gegen das Böse.
Parallel dazu hatte ein Teil der alten Redaktion das Internetprojekt etuxx ins Leben gerufen. In ihrem Abschiedsheft schreiben sie rückblickend: „Die Tuntentinte selbst ist ein Projekt, das in der schwulen autonomen Szene entstanden ist. Von Anfang an sollten die LeserInnen auch die AutorInnen sein. Als das Projekt wuchs und mit ihm auch die Nachfrage, begann sich der Kreis dieser Szene, die am Anfang noch sehr geschlossen war, immer weiter zu öffnen. Mit jeder neuen Ausgabe haben wir die Auflage gesteigert, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Herausgabe einer einzigen Ausgabe von der Idee bis zum Druck und Versand immer mehr Arbeit wurde, die sich nur lohnte, wenn möglichst viele die Tuntentinte zu lesen bekommen. Mit dieser Öffnung nach außen sind Probleme entstanden, die auf Dauer nicht mehr zu lösen waren und sowohl den Herstellungsprozess als auch die Frage nach der Zielgruppe, der ‚Szene‘ betreffen. Immer öfter standen wir allein zwischen Kritikern und Fans der Tuntentinte; inhaltliche Rückmeldungen gab es ebenso selten wie Themenvorschläge oder Schreibangebote. Für eine linksalternative Schwulenszene zu schreiben war offenbar nicht Motivation genug. Das haben wir vor allem bei den AutorInnen gespürt, die sich der Szene nur im weitesten Sinn zugehörig fühlten, die wir aber interessant fanden und gewinnen wollten. So blieb für uns die undankbare Rolle der Bittsteller, eine Rolle, die auf Dauer ermüdet. Immer deutlicher haben wir zu spüren bekommen, wie sich die Szene, für die wir veröffentlichten, bis zur Selbstauflösung gewandelt hat, so sehr das ‚Szene’ heute wohl nur noch in Anführungszeichen geschrieben werden kann. (…) Nicht zuletzt aus diesen für das Projekt Tuntentinte durchaus existentiellen Fragen heraus ist die Idee geboren worden, ein Internet-Projekt zu starten und den Phoenix aus der Asche wiederaufstehen zu lassen. (…) Wir haben das neue Medium gewählt, weil wir nach wie vor viel zu sagen haben und die politischen Inhalte vor einem größeren Publikum noch schöner und sinnlicher entfalten wollen. www.etuxx.com heißt das Zauberwort.“

Die hier bereits angesprochenen Probleme sollten bleiben. Mit der Ansage, „die Tuntentinte ist nämlich keine Konsumentenzeitung, sondern ein Rundbrief“, wurde immer wieder dazu eingeladen, eigene Beiträge zu verfassen und zu diskutieren, was zwar auch in durchaus beeindruckender Weise und mitunter scharf und bissig und über mehrere Ausgaben hinweg geschah, aber ein chronischer Mangel an Artikeln und gerissene Deadlines blieben stets ein Problem. Des Weiteren gab es auch stete Finanzierungsprobleme. Die Tuntentinte wurde nicht verkauft, sondern ausschließlich über Spenden finanziert. Dazu kam es immer wieder zu Personalmangel und Überarbeitung (in der Nr. 17 heißt es, dass nach Einsendeschluss aller Artikel noch über 250 Stunden Arbeit anfallen, um eine Tuntentinte zu produzieren und zu verschicken) und nicht zuletzt nagten Vorwürfe der „Berlinlastigkeit“ an dem Projekt.
Die letzte Redaktion produzierte vier Ausgaben und plante dann eine Gemeinschaftsausgabe mit dem französischen Pendant bangbang – dazu kam es jedoch nie. Es erschien noch eine letzte Doppel-Ausgabe und zugleich eine Nullnummer des tintentuntbrief, der unter diesem Namen aber keine Fortsetzung fand. „Wir schlagen vor, statt der Tuntentinte, zwischen den Homolandwochen, einen tintentuntbrief herauszugeben“ ist in gewisser Hinsicht ein back to the roots, zu den Anfängen der Tuntentinte.
Von Sommer 2004 bis Herbst 2006 erschienen dann in einer Auflage von 150 Stück fünf Ausgaben der Tuntentinte extrakt in Verantwortung der Homolandwoche. Die Tuntentinte extrakt war das Ergebnis einer Entscheidung auf der Homolandwoche, „nachdem klar war, dass es die Leute, die zu einer kontinuierlichen redaktionellen und gestalterischen Arbeit an der Tuntentinte bereit sind, zur Zeit nicht gibt“ (ex. 3).
Von März 2008 bis April 2010 erschienen von einer virtuellen Redaktion herausgegebene fünf per E-Mail verteilte PDFs der Tuntentinte electronic mit der Bitte an die Empfänger*innen, diese auszudrucken und in ihren Umfeldern zu verteilen.

Anhand der Entwicklung der Tuntentinte lässt sich auch eine bestimmte technische Entwicklung veranschaulichen, die in den letzten Jahrzehnten das gesamte Printwesen ganz fundamental verändert hat. Entstanden ist die Tuntentinte in einer Prä-Internetzeit, in der Beiträge entweder auf Diskette oder handschriftlich eingereicht werden mussten. Ab der Nr. 7 konnten Texte auch per E-Mail eingeschickt werden. Seit 1998 gab es begleitend Tuntex (Tunten verschicken Texte), eine aus Amsterdam betriebene Mailingliste für den Austausch zwischendurch.
Eben weil die Tuntentinte in einer Prä-Internetzeit entstanden ist und für eine sehr kleine, tendenziell überschaubare Szene entstanden ist, wurden auch nicht viele Gedanken an Datenschutz verschwendet. Wir als Blog wiederum haben Bankverbindungen und Privatadressen unkenntlich gemacht und bei Foto-Love-Stories die Gesichter verpixelt. Die Leute leben ja heute noch und sollen keine unangenehmen Konsequenzen bekommen.
Dass die Tuntentinte jetzt übrigens im Netz auffindbar ist, widerlegt die Annahme Mancher, man fände „einfach alles“ im Internet. Dies ist ein Trugschluss; umso mehr, wenn es sich um graue Literatur aus sozialen Bewegungen handelt. Es gibt so vieles, das (bisher) nicht online ist.

Wir als Tuntentinten-Blog stellen die Ausgaben der Tuntentinte zur Verfügung, weil wir sie toll und wichtig finden! Viele Themen und Debatten haben unseres Erachtens nicht an Aktualität verloren. Manche der Ausgaben finden wir regelrecht legendär, wie beispielsweise die Schwerpunktausgabe zum Umgang mit Tätern, die damals sofort vergriffen war oder auch die Ausgabe zu Erotik und Pornographie, die einen Meilenstein emanzipatorischer Diskussion zu diesen Themen darstellt. Die erstgenannte Ausgabe ist nicht zuletzt deswegen besonders hervorzuheben, weil vor der Zeit von Blogs und Web 2.0 allen Autorinnen alle Texte im Vorfeld zugeschickt wurden, sie auf diese reagieren konnten und all das im Heft abgedruckt wurde. Die Originaltexte wurden also nicht geglättet, sondern die Diskussion darum transparent gemacht. Grandios.

Wir haben vor einigen Jahren bereits den Männerrundbrief online gestellt, das heterosexuelle Pendant zur Tuntentinte, und hatten dabei auch das Interesse, mit einer kritischen Diskussion um Männlichkeit rechten Narrationen entgegenzutreten. Dieses Ansinnen soll mit dem Online-Stellen der Tuntentinte fortgesetzt werden. Die auf diesem Blog versammelten Texte kommen aus einer dezidiert linksradikalen Schwulenbewegung, die schon sehr frühzeitig „queer“ diskutiert hat, das Patriarchat smashen wollte, in der es eine Schwule Antifa gab und eine gesunde Skepsis gegenüber identitären Bezugnahmen. Kritische Diskussionen um Sexualität und Männlichkeit sind mit dem Begehren nach Emanzipation und Befreiung verknüpft und stellen einen wichtigen Kontrapunkt gegen rechte, maskuli(ni)stische, antifeministische, antiqueere und konservative Verengungen dar.

Banner mit Text: "Mein Lippenstift ist wichtiger als Deutschland"

Auf diesem Blog finden sich ein Ende 2021 geführtes Interview mit zwei Ex-Redaktionsmitgliedern und ein persönlicher Rückblick eines damals interessierten Lesers. Die Ausgaben der Tuntentinte selbst finden sich hier als Download, weiterführende Links findet ihr hier. Als besonderes Schmankerl haben wir noch den Reader zum 2. Treffen Anarchie und Sinnlichkeit online gestellt, das im Februar 1988 in Berlin stattgefunden hat. Etwas zum Hintergrund dieser bundesweiten Treffen findet sich auch in der Tuntentinte 18 auf S. 12.
Wer einen eigenen Beitrag, gerne auch persönlich, zur Tuntentinte hat, kann diesen sehr gerne an uns schicken – wir freuen uns! Falls ihr noch Hinweise zu Erscheinungsdaten bei den Ausgaben habt, wo wir uns unsicher sind, noch weitere Ausgaben der Tuntentinte extrakt oder electronic habt, Rechtschreibfehler findet oder eine sonstige Rückmeldung an uns habt: Bitte schreibt uns!
Nicht zuletzt möchten wir euch bitten, diesen Blog bekannt zu machen. Wir haben nicht die Kapazitäten und Reichweite, um das zu bewerkstelligen.
Merci und bis bald

Blog Tuntentinte

˄