Interview mit 2 Redakteurinnen der Tuntentinte

„Die Gesamtgesellschaft verändern“

 

Lukas Tau: Was kann ich mir unter der Tuntentinte vorstellen?
 

Baella van Baden-Babelsberg: Die Tuntentinte hat als „Reader“ der Landwochen in den 1990er Jahren angefangen. Ursprünglich war das nur eine Ansammlung von Protokollen aus den Arbeitsgruppen unserer Treffen auf dem Land. Die Landwoche – wir nannten sie später „Homolandwoche“ – entstand damit ungefähr zeitgleich mit der Bewegung der schwulen Autonomen in der Bundesrepublik. Hier trafen sich Schwule aus linksautonomen Projekten, um sich über ihre Projekte und das, was sie in ihren politischen Zusammenhängen taten, auszutauschen.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Die Idee war, sich an einem Ort auf dem Land zu treffen. Schwule Städter gingen also extra aufs Land, um nicht von der Stadt abgelenkt zu werden. Wobei ja viele zuvor aus der Provinz geflüchtet waren, um in irgendeine Großstadt zu ziehen, wo es eine bestehende schwule Subkultur gab. Dass die Treffen auf dem Land stattfanden, war übrigens wichtig, damit die Leute abends nicht einfach in die (Party-)Szene abhauen konnten.

Es gab Auseinandersetzungen darum, wie viel Party und wie viel Politik auf den Treffen stattfinden sollte. Da die Homolandwoche verschiedenen Zwecken diente, war das auch ein struktureller Konflikt. Es gab den Anspruch, politisch zu arbeiten. Und gleichzeitig war das ein Ort für Schwule, die sonst keine schwulen Netzwerke hatten. Schwule, die zwar gut eingebunden waren in eine linksautonome oder linksalternative Szene, sich da aber einsam fühlten. Dadurch war es auch ein Heiratsmarkt und eine große Party.
 

Baella van Baden-Babelsberg: „Heiratsmarkt“, naja. „Geheiratet“ wurde ja nun nicht, auf jeden Fall nicht für längere Zeit. Bei den Landwochen gab es verschiedene AGs zu Themen, die uns wichtig waren und natürlich Spaziergänge in der Natur. Wir haben auch kleine, trashige Filme gedreht, berühmt war auch das homoländische Croquet-Spiel, es gab Foto-Lovestories und einmal auch eine Diaporama-Show, also eine Dia-Projektion mit Vertonung mit einer ziemlich abstrusen Geschichte – „Homoland 4 Kilometer“. Das Thema Sexualität hat auf den Landwochen immer eine Rolle gespielt: Wie offen findet die statt? Wer hat mit wem Sex? Gibt es nur Zweier-Verbindungen oder kann man auch mal Sex in der Gruppe haben?

Es gab auch eine breite Diskussion über sogenannte „Kuschelräume“. Eine Fraktion wollte die Möglichkeit schaffen, dass wir uns auch körperlich begegnen und nicht nur immer reden. Die Kritik war, Homoland sei total verkopft und Sex finde nur zurückgezogen im Privaten statt. Andere waren gegen Kuschelräume, weil sie meinten, das würde Menschen ausschließen, die eher zurückhaltend oder gehemmt sind. Am Ende gab es keinen „Kuschelraum“, sondern ein „Matratzenzimmer“, mit dem alle leben konnten, also einen Raum „ohne Kuschelzwang“. Was wir alles für Diskussionen geführt haben! (lacht)
 

Lukas Tau: Da fällt mir ein Zitat zu ein, das ich in einer Ausgabe der Tuntentinte gelesen habe: „Die Kuschelrunde ist ein politischer Weg“.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Alles, was man machte, erfuhr eine politische Überhöhung, weil das ganz zentral war für die eigene Identität. Muss ja alles politisch legitimiert werden und einfach nur sexuellen Bedürfnissen nachzugehen, wäre ein bisschen zu profan gewesen.
 

Lukas Tau: Es gab also erst die Homolandwochen und aus denen ist die Tuntentinte entstanden?
 

Baella van Baden-Babelsberg: Es gab diese Woche irgendwo auf dem Land mit den Protokollen aus den Arbeitsgruppen. Der Begriff „Homoland“ kam erst später auf. Am Anfang hat eine Person aus der sogenannten „AG Papiere“, die sich nur „die Redakteurin“ nannte, die Protokolle gesammelt, kopiert und rumgeschickt. Diese Sammlung war dann die erste Ausgabe der Tuntentinte, die Nr. 0, erschienen im November 1994.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Die Landwochen dienten auch als Vernetzungstreffen. Bei der Tuntentinte ging es darum, nicht nur während Homoland, sondern auch dazwischen die Möglichkeit zu haben, sich eingebunden zu fühlen und sich auszutauschen und dann vielleicht auch eine Kontinuität der einzelnen Landwochen herzustellen. Es ging auch darum, Themen zu besprechen und zu diskutieren, die dann wieder aufgegriffen wurden.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Zunächst wurde die Tuntentinte nur an die geschickt, die auf einer Landwoche waren. Ich glaube, die Auflage von der Nr. 0 war maximal 50 Exemplare.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Später, als sie dann gelayoutet wurde, lag die Tuntentinte auch in den schwulen Buchläden, Infoläden und anderen Szene-Orten aus. Das war wichtig, um eine Öffentlichkeit herzustellen in der alternativen Szene, um schwule Präsenz zu zeigen und um Leuten die Möglichkeit zu geben, Kontakt aufzunehmen.
 

Lukas Tau: Warum war es für linke, organisierte, schwule Männer wichtig, sich mit anderen linken, schwulen Männern zu treffen?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Weil es in den linken Strukturen nicht so viele Schwule gab und weil diese Strukturen homophob waren. Viele waren frustriert von der heterosexuellen Dominanz und der Homophobie der linken Szene, aber auch von dem Mainstream und der Angepasstheit der schwulen Kommerz-Subkultur. Sie suchten deswegen nach alternativen Orten.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Ich lebte zu der Zeit in Hamburg. Dort gab es eine linksradikale Szene, die in meiner Wahrnehmung vor allem aus sehr mackerigen, heterosexuellen Typen bestand. Wir wollten uns zum einen von der bürgerlichen schwulen Szene abgrenzen, aber auch von diesen linken heterosexuellen Mackern. Es ging uns um schwule Sichtbarkeit. Hier, schaut her, uns gibt es! Unser Tunten-Sein haben wir auch als Provokation innerhalb der linken Szene verstanden, zumindest hat unser Auftreten immer auch zu Verunsicherung geführt. Das hat uns großen Spaß gemacht, weil viele damit überhaupt nicht klar kamen, aber keine Angriffsfläche hatten.

Die Landwoche war besonders wichtig für schwule Linke aus kleineren Orten. Zweimal im Jahr in einem linken schwulen Zusammenhang zusammenkommen war für viele total bedeutsam! Aus dem gleichen Grund war die Tuntentinte auch so wichtig: um sich auch zwischen diesen Treffen aufeinander zu beziehen und sich verbunden zu fühlen. Das war meist eine besondere und schöne Atmosphäre dort. Wenn ich von dort zurückkam, bin ich immer erstmal in ein emotionales Loch gefallen. Ich erinnere mich noch, wie ich in Hamburg in der S-Bahn saß, allein, auf dem Weg zu meiner Wohnung, zurück von einer Landwoche, und ich sah diese ganzen Kleinfamilien und vereinzelten Menschen und dachte: „Das ist doch scheiße hier, was bin ich froh, dass ich meinen Zusammenhang habe!“. Die Tuntentinte war für mich da so etwas wie eine Vergewisserung, dass wir gemeinschaftlich an einer Utopie für eine bessere Gesellschaft arbeiten.

(zu Frau Dr. Lore Logorrhöe) Wie ging es dir damit, kannst du da was mit anfangen, du warst ja in Berlin zu der Zeit?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ja, ich habe damals im Tuntenhaus gewohnt. Irgendwann ist auch die Redaktion der Tuntentinte nach Berlin umgezogen. Berlin hatte zu der Zeit ohnehin eine ziemliche Dominanz innerhalb der linken Szene. Dadurch habe ich mich in Berlin schon am richtigen Ort gefühlt.
 

Lukas Tau: In welchem Tuntenhaus? Ich hab vor Kurzem gelesen, dass es nicht nur das eine Tuntenhaus gab.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ich bin nicht so alt, dass ich im ersten Tuntenhaus in der Bülowstraße gewohnt habe. Das Haus entstand Anfang der 1980er. 1990 gab es das zweite Tuntenhaus in der Mainzer Straße, in dem war ich auch noch nicht dabei. Ich bin Mitte der 1990er in das Tuntenhaus gezogen, das es heute noch in der Kastanienallee gibt. Das war da schon nicht mehr besetzt, sondern hatte einen Vertrag bekommen.
 

Alle Cover der Tuntentinte nebeneinander

 

Baella van Baden-Babelsberg: Im Mai 1995 wurde die Tuntentinte Nr. 3 zum ersten Mal von der Berliner Redaktion produziert. Die Ausgaben Nr. 0 und 1 kamen aus Frankfurt, die Ausgabe 2 hat W. aus der Kneipe „Schwule Sau“ in Hannover gemacht. Die folgenden Ausgaben kamen aus Berlin und wurden immer liebevoller layoutet mit viel Spaß am Design. Ich bin ab der Nr. 12 zum Thema „Cocooning“, also „Wie wollen wir wohnen und leben?“, persönlich voll eingestiegen – also als Herausgeberin. Dass wir außerdem ein „Institut zur Beschleunigung und Verzögerung der Zeit“ und das Radio „radiOAton“ betrieben, war, denke ich heute, eine Art Selbstvergewisserung, dass wir bedeutend sind mit dem, was wir da machen. Wir haben immer mit Namen und Pseudonymen gespielt, was einerseits sehr viel Kreativität freisetzte, uns andererseits aber auch Schutz vor Angriffen bot. Zunehmend kam das Bedürfnis auf, uns über den Kreis der Landwochen hinaus sichtbar zu machen. Und wir wollten neue Teilnehmer für die Landwochen finden.
 

Lukas Tau: Was waren die Themen in der Tuntentinte?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Wir sind irgendwann zu thematischen Ausgaben übergegangen. Wir haben auf den Landwochen immer eine AG Tuntentinte gemacht, bei der wir gefragt haben, welche Themen diskutiert werden sollen. Eines dieser Themen war „sexualisierte Gewalt und Umgang mit Tätern“. Für mich war diese Ausgabe ein Highlight in der Geschichte der Tuntentinte. Die Ausgabe wurde dann auch in der darauffolgenden Landwoche diskutiert und gab die Gelegenheit, eine Kommunikation herzustellen, die sonst nicht zu Stande gekommen wäre. Andere Themen blieben oft etwas akademisch. Das war beim Thema sexualisierte Gewalt anders. Es war ein wahnsinnig heißes Eisen. Konflikte rund um das Thema kochten immer wieder hoch, eine Landwoche ist dadurch fast gesprengt worden.
 

Lukas Tau: Das Thema war eigene Täterschaft und eigene Betroffenheit?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Eigene Täterschaft spielte fast keine Rolle. Es ging um sexualisierte Gewalterfahrungen, also Opfererfahrungen. Und es ging um die politische Haltung zur Pädo-Debatte. Einige Gruppen, die an Landwochen teilnahmen, hatten sich sehr solidarisch mit Pädo-Gruppen gezeigt und andere wiederum sehr solidarisch mit Betroffenen von pädosexueller Gewalt.

Ob es auch Täter auf den Landwochen gab? Schwer zu sagen. Zumindest musste eine Person eine Landwoche verlassen, da ihr Täterverhalten vorgeworfen wurde.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Die Landwoche, auf der das 1996 passierte, war mit 40 Personen eine der größten Landwochen überhaupt. Als die Landwochen begannen, waren wir nur etwa 15 Leute. Ich erinnere mich noch an das Plenum dieser großen Landwoche, bei dem wir gar nicht alle in den Raum reinpassten, sondern noch in den Nebenzimmern saßen. Ausgelöst wurde die Debatte dadurch, dass jemand vorher am Lagerfeuer davon erzählt hatte, dass er jemanden „vernascht“ hätte. Ich erinnere mich noch an diesen Ausdruck: „vernascht“.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Die betroffene Person war minderjährig. Wie alt genau, war nicht klar. Der Beschuldigte hatte deshalb auch innerhalb der linken Szene seines Heimatortes schon Probleme bekommen und suchte dann auf der Landwoche Solidarität, bekam sie aber nicht. Daran zeigte sich auch, dass einigen das Thema vertraut war, zum Teil aus eigener Betroffenheit. Andere wiederum hatten sich damit noch überhaupt nicht auseinandergesetzt und haben da ziemlich rumgeeiert. Das hatte auch soziale Sprengkraft. Die gemeinsame Vertrauensbasis ist für einige verloren gegangen. Für die einen, weil sie sich nicht mehr sicher waren, ob die Landwoche für sie noch ein sicherer Ort war und für die anderen, weil der Raum, um sich auseinanderzusetzen und auch Fragen stellen zu dürfen, für sie irgendwie verschwunden war.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Der Beschuldigte musste zwar abreisen, aber das Thema kochte weiter. Ich habe damals ein Radioprojekt auf Homoland gemacht, die „Homoland-Nachrichten“. Das Thema sexuelle Gewalt kam in den täglichen Nachrichtensendungen immer wieder vor. Wenn ich mir diese Sendungen heute anhöre, kommen mir immer noch große Zweifel daran, wie wir damals miteinander umgegangen sind. Während der Woche ist einer langsam abgedreht. Wir waren damals einfach zu viele und damit überfordert, auf ihn einzugehen. Am Ende der Woche ist die Person dann mit einer anderen zusammen im Auto abgereist und hatte einen schweren Unfall mit Totalschaden. Wie durch ein Wunder kamen sie dabei nicht ums Leben.

Das Thema sexualisierte Gewalt durchzieht eigentlich alle Ausgaben der Tuntentinte in irgendeiner Form. Und nicht nur die Tuntentinte. Es gab im Juni 1995 auch eine Pädo-Debatte in der Interim, der Zeitschrift der autonomen Bewegung. Wir haben die Ausgabe Nr. 10 produziert: „Homoland, wie weiter?“. Das war die Ausgabe zu sexualisierter Gewalt. Wir hatten auch vorher schon einen Fall im Umfeld. Eine Person hat sich selbst als pädophil geoutet und wollte damit einen Umgang finden, hat aber sofort viel Konfrontation bekommen. In der Interim wurde das hoch und runter diskutiert.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Man muss dazu sagen, dass die Debatte über sexualisierte Gewalt durch die feministische FrauenLesben-Bewegung ausgelöst wurde. Sie forderten diese Auseinandersetzungen ein. Viele bei der Landwoche waren im losen Kontakt zur FrauenLesben-Bewegung und haben das als einen Ort gesehen, an dem sie sich noch am ehesten wiedergefunden haben in ihren linken Zusammenhängen. Hier gab es Diskussionen um Sexualität, Geschlechterrollen und Patriarchat. Viele Schwule versuchten die Positionen, die in der FrauenLesben-Bewegung erarbeitet wurden, in die eigene Szene hineinzutragen. Ich fand es sehr gut, dass es diese Auseinandersetzungen in der Schwulenbewegung gab. Homoland und Tuntentinte gehörten zu den wenigen Orte in der schwulen Szene, wo überhaupt über Pädophilie diskutiert wurde. Seit der sogenannten „Sexuellen Revolution“ gab es eine gewisse Solidarität von Teilen der linksalternativen Szene mit der Pädo-Bewegung. Die gab es später auch in Teilen der Schwulenbewegung. Diese Solidarität ist dann Mitte der 1990er Jahre aufgekündigt worden, aber ohne, dass da eine weitreichende Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Bis heute ist die Debatte ein Phantom, die, besonders wenn man sich mit älteren Schwulenbewegten unterhält, unaufgearbeitet herumschwirrt. Diese mangelnde Auseinandersetzung hat auch dazu geführt, dass es keinen Umgang mit den strukturellen Gründen sexualisierter Gewalt in der schwulen Szene gegeben hat oder gibt.
 

Lukas Tau: Wie war eigentlich eure Verbindung zum (pro)feministischen Männerrundbrief, also auch thematisch? Der erschien ja zur gleichen Zeit.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Der Männerrundbrief war ganz klar ein heterosexueller Rundbrief. Schwule wurden zwar immer ganz lieb erwähnt, aber waren auch immer ganz klar das Andere.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Es gab kaum Verbindungen zwischen uns und den männerbewegten Kreisen. In den 1990er Jahren ging es ja viel um Abgrenzung – Wer hat die radikaleren Konzepte? Ich denke, wir waren uns gegenseitig irgendwie suspekt. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen um die „Tunte“ als eine ganz eigene Form von Militanz und als Infragestellung von Männlichkeit. Während einer Landwoche gab es Konflikte zwischen schwulen linken Mackern und militanten Tunten. Auch da ging es um die Auseinandersetzung mit Männlichkeit.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ein Problem dabei war, dass Männlichkeit ganz klar auch begehrt wurde.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Ja, das war sehr ambivalent. Eine Tunte war cool, aber alles andere als sexuell begehrt. Es gab ja auch Tunten in der Kommerz-Szene.
 

Lukas Tau: Was sind Tunten?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Tunte-Sein wird von den Polittunten als eine Form politischer Auseinandersetzung und Provokation verstanden. Es gibt sicherlich noch andere Aneignungsweisen von Tunte-Sein, aber der Tuntenbegriff, auf den sich die Landwoche bezogen hat, war einer, der aus einer politischen schwulen Bewegung entstanden war, wo Tunte-Sein immer hieß, politisch mit dem eigenen Schwulsein in die Offensive zu gehen, das Schwulsein nicht zu verstecken, sondern schwulenfeindliche Klischees aggressiv aufzugreifen. Manchmal auch zu provozieren, indem man bestimmte Klischees von Femininität aufgreift und die karikiert. Es geht auch ums Verwirren.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Politische Tunte ist auch noch mal was Anderes als Drag. Es geht dabei auch immer um eine Auseinandersetzung mit männlichen und weiblichen Rollen.
 

Lukas Tau: Noch mal kurz zurück zu der Aussage, dass Männlichkeit begehrt wurde. Wurden Männer begehrt oder Männlichkeit? Lässt sich das überhaupt trennen?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ich denke, Männlichkeit von cis Männern wurde begehrt. Trans* Männer kamen nicht vor auf den Landwochen, das war damals noch kein Thema.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Überhaupt nicht, leider. Trans* Männer hatten wir damals überhaupt nicht auf dem Schirm.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Aber es ging um trans* Frauen oder trans* Personen, die sich unwohl gefühlt haben in einer männlichen Identität. Die wurden geachtet, aber ob die auch im gleichen Maße begehrt wurden, bezweifle ich. Es gab einige, die im „Kuschelraum“ bzw. im „Matratzenzimmer“ durchaus ankamen. Ich kann mich erinnern, dass sich eine Person immer mehr als trans* identifiziert hat, die auch eine Diskussion auf der Landwoche eingefordert hat über Schönheitsnormen und Männlichkeitsnormen. Es war nicht leicht, darüber zu reden. Es war allen klar, dass es eigentlich als moralisch richtig galt, traditionelle Männlichkeit nicht so begehrenswert zu finden, die große Mehrheit der dort versammelten schwulen Männer aber genau das tat.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Es ging in den Diskussionen damals eigentlich nur ums Begehren und nicht um geschlechtliche Identität. Von heute aus betrachtet empfinde ich das als ein sehr großes Manko. Die Diskussion, die jene trans* Person einforderte, wurde einfach nicht geführt.
 

Lukas Tau: Was war eure Utopie von einer besseren Gesellschaft?
 

Baella van Baden-Babelsberg: „Homoland“ war für mich immer auch die Utopie einer Gesellschaft, in der wir nicht vereinzelt leben, sondern in größeren Zusammenhängen, in denen wir uns wesentlich intensiver aufeinander beziehen. Eine Gesellschaft, in der Sexualität und Identität keine Ausschlusskriterien sind. Diese Utopie platzte für mich auf der Homolandwoche 1996 mit diesem Desaster um den Tätervorwurf. Die Utopie, die ja im Wesentlichen daraus bestand, das wir uns aufeinander beziehen, achtsam sind, uns gegenseitig wahrnehmen und darum ringen, wie wir miteinander umgehen wollen, war mit einem Schlag gestorben. Ich bin weiter zu den Landwochen gefahren und die Tuntentinte haben wir auch weiter gemacht, aber das Gefühl einer Utopie war weg. Damit war irgendwie die Luft raus. Ich habe mich gefragt, warum ich das überhaupt alles mache.
 

„Dieser Phantomschmerz vom Verlust der Utopie einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung, diese Trauerarbeit, die wurde zum Teil auf der Homolandwoche und in der Tuntentinte geleistet.“

 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ich würde sagen, unser Bemühen war der Versuch, das utopische Potenzial der schwulen Emanzipation hinüberzuretten in eine Zeit, in der die Schwulenbewegung auf eine Weise sehr erfolgreich war, weil sie immer mehr in der Mitte der Gesellschaft ankam. Dabei ging aber auch etwas verloren, was ursprünglich eine utopische Idee der Schwulenbewegung war, nämlich die Gesamtgesellschaft zu verändern. Und dieser Phantomschmerz vom Verlust der Utopie einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung, diese Trauerarbeit, die wurde zum Teil auf der Homolandwoche und in der Tuntentinte geleistet.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Der französische Philosoph Guy Hocquenghem zählte zu den radikalen Vertretern einer Theorie, die besagte, dass eine Gesellschaft, die Homosexualität nicht nur toleriert, sondern als Lebensweise voll und ganz akzeptiert, eine radikal andere, neue Gesellschaft sein wird und dass es deshalb Aufgabe der Schwulen ist, nicht die Muster der heterosexuellen Gesellschaft zu kopieren, mit Homo-Ehe und Bla, sondern eine ganz eigene Kultur zu schaffen. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Schwulen kamen immer mehr im Mainstream an und die Utopie einer anderen Gesellschaft hatte sich damit erledigt. Vielleicht auch, weil der Philosoph das Schwulsein idealisierte? Na ja, und dann kam 1989 die sogenannte „Wende“, sogenannt, weil damit meist was Positives ausgedrückt werden soll. Ja, es war eine Wende, aber nicht nur positiv. Von heute auf morgen lösten sich die ganzen linken Zusammenhänge auf und die Entsolidarisierung nahm ihren Lauf. Heute gibt es in meiner Wahrnehmung viele Einzelkämpfer*innen und kaum noch größere Zusammenhänge. Für mich sind die vielen ganz anderen „Familien“ abhandengekommen.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ich denke, jede Utopie erfährt an irgendeinem Punkt ihre Entzauberung. Das mag für jeden und jede ein unterschiedlicher Zeitpunkt sein und an unterschiedliche Erfahrungen geknüpft sein. Für dich war es auf der Landwoche mit dem Tätervorwurf. Für mich war das gar nicht so einschneidend. Ich hatte ganz andere enttäuschende Momente. Jede Utopie ist auch eine Idealisierung und kommt irgendwann in der Realität an. Ich bin der Ansicht, dass gegenseitige Achtsamkeit in einer Gruppe, die ziemlich beliebig zusammengewürfelt ist und wo es nicht so viel Kontinuität gibt, nur bis zu einem gewissen Grad verwirklicht werden kann. Das utopische Moment gelingt darin manchmal. Auf eine harte Probe gestellt, zeigt sich im Alltag dagegen, dass zusätzlich andere Dinge wichtig sind, beispielsweise soziale Strukturen, in denen die Leute eingebunden sind, wo sie aufgefangen werden. Darüber haben wir damals aber nicht viel nachgedacht, wie die gesamte autonome Szene sehr wenig über Kontinuität, Struktur und Organisation nachgedacht hat. Wir waren ja eher so Spontanitätsfetischist*innen.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Stimmt. Wir haben auch nie über unsere soziale Herkunft gesprochen. Bei denen, die sich am meisten autonom gaben, habe ich später festgestellt, dass sie aus wohlhabenden Elternhäusern kamen, also ganz anders sozial abgesichert waren.
 

Lukas Tau: Es ist immer ein Problem, sich seine Abhängigkeiten einzugestehen und die zu formulieren. Innerhalb der bürgerlich-männlichen Gesellschaft sowieso, aber vielleicht noch mal besonders oder zumindest spezifisch in einer Szene, die sich autonom nennt. In diesen Zusammenhängen zu formulieren, dass mensch ein Bedürfnis nach Zusammenhalt und Verantwortung hat, die weiter geht als zum Beispiel politische Aktionen und Events zu machen oder zweimal im Jahr zusammen zur Homolandwoche zu fahren, ist vielleicht besonders schwer. Oder was denkt ihr?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Da hat die autonome FrauenLesben-Szene einiges geleistet. Sie haben da den Finger in die Wunde gelegt und klar gemacht, dass wir immer abhängig sind und dass diese Vorstellung von Autonomie etwas sehr männlich-patriarchales ist. Sie haben sich anders organisiert, hatten andere Gruppenzusammenhänge. Ihr Auftreten auf Demos hat deutlich gemacht, dass es andere Arten der Militanz gibt. Es ging ihnen immer auch um Nachsorge und Nachbearbeitung von dem, was kollektiv erlebt wurde. Das fand in anderen autonomen Szenen nicht statt, also in der gemischten und männlichen autonomen Szene.
 

Lukas Tau: Dazu fällt mir ein Transparent ein, das auf einem der Autonomie-Kongresse der 90er Jahren hing und von Teilen der FrauenLesben-Bewegung dort aufgehängt wurde. Auf dem Transparent stand: „Autonomie ist selbstgewählte Abhängigkeit!“ Ich finde das sehr erhellend.
Mit Blick auf Heute und Damals: Was hat sich verändert, was braucht es oder hätte es gebraucht?
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Linke Bewegungen organisieren sich heute ganz anders. Zum Teil spielen andere Fragen eine Rolle. Diskussionen um Rassismus waren damals längst nicht so wichtig wie heute. Wissen um und Angebote für Trans* und andere Geschlechtsidentitäten waren auch noch auf einem ganz anderen Stand. Heute ist es wahrscheinlich einfacher geworden, in linken Zusammenhängen offen schwul oder auch trans* zu sein und sich innerhalb dieser Szene zu vernetzen, ohne noch eine Schnittmengenszene zu brauchen. Die schwule Szene hat sich verändert, hat sich differenziert. Dadurch ist es auch nicht mehr so einfach, sie pauschal zu kritisieren, wie es damals noch gemacht wurde.
 

Baella van Baden-Babelsberg: Ich finde es schwierig, diese Frage zu beantworten, weil sie immer eine Frage der eigenen Lebensweise ist. Das Thema Schwulsein als eine Identität in einer autonomen Szene interessiert mich persönlich heute nicht mehr. Mir geht es jetzt um andere Dinge. Trotzdem ist es schade, dass diese Utopie geplatzt ist. Gleichzeitig bleibt sie in mir lebendig. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Zusammenhang, der verbindlich ist, mir aber auch Freiraum lässt.

Was ich immer vermisst habe und was wir nicht geschafft haben, ist, Kontinuität herzustellen. Es gab eine anti-bürgerliche schwule Bewegung auch schon mal vor uns. Einen richtigen Kontakt dahin gab es aber nicht. Deswegen machen wir auch immer wieder die gleichen Fehler. Die nächste Generation muss sich wieder neu ausprobieren, was auch okay ist. Aber wenn ich da heute draufschaue, hätte es vielleicht auch anders gehen können. Und jetzt kommst du und fragst plötzlich nach, nach 25 Jahren. Ich habe einerseits Schwierigkeiten, mich überhaupt noch zu erinnern und gleichzeitig das Gefühl, dass mir alles noch gegenwärtig ist. Das war eine ganz, ganz tolle Zeit, die ich überhaupt nicht missen möchte. Wir hatten kurz, auf dem Weg hierher zum Interview, das Thema Scheitern, und wenn es jetzt ums Scheitern geht…
 

Lukas Tau: …ganz kurz, diese Ausgabe hat zwar den Schwerpunkt „Scheitern“, aber das Interview mit euch wollte ich nicht deswegen machen.
 

Baella van Baden-Babelsberg: …da ist vieles auch ins Leere gelaufen. Trotzdem: Der Weg war auch damals schon das Ziel. All die Sachen, die wir miteinander erlebt haben, bleiben wichtig, auch wenn wir jetzt alle auf unseren eigenen Inseln unterwegs sind.
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Ich finde den Aspekt der Weitergabe sehr schön! Mir ist es wichtig, eine gewisse Kontinuität herzustellen, ein kulturelles Gedächtnis zu bewahren, um zu gucken, wo wiederholt sich was und warum. Deshalb sitze ich hier.

Erschrocken bin ich von dem, was immer gleich geblieben ist. Dass bestimmte Probleme immer noch nicht gelöst sind! Die Schwulenbewegung – und auch andere Bewegungen – haben immer daran gekrankt, dass es keine Verbindung zwischen den Generationen innerhalb der Bewegung gab. Es ist aber wichtig, dass wir miteinander ins Gespräch kommen!
 

Lukas Tau: Wenn ihr jetzt 25 Jahre zurückgehen würdet, würdet ihr es noch mal machen?
 

Baella van Baden-Babelsberg: Ja klar! Aber mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich es anders machen. Ich wäre sehr viel selbstsicherer. Ich würde noch mehr gestalten und intensiver in den Kontakt zu den anderen gehen. Ich glaube, ich würde so eine Landwoche nutzen, um Menschen zu finden, mit denen ich Kunstprojekte entwickeln könnte, die intervenieren und den gesellschaftlichen Konsens infrage stellen. Auch die Tuntentinte hatte das Potential dazu. Im Nachhinein war sie für mich eigentlich auch so etwas wie ein Kunstprojekt, das ja später seine Fortsetzung im Online-Magazin etuxx fand, das es von 2000 bis 2006 gab. Zu einer Zeit, als das Internet laufen lernte. Das war Avantgarde. (lacht)
 

Frau Dr. Lore Logorrhöe: Frei nach Samuel Beckett würde ich sagen: Noch mal machen, noch mal scheitern, besser scheitern.
 
 

Das Interview erschien zuerst im Boykott-Magazin, Ausgabe 2, März 2022, S. 72–80.

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