Erinnerungen an die Tuntentinte

Die Tuntentinte trat ungefähr 1996 in mein Leben. Zwei Mitbewohner brachten sie von der Homolandwoche mit, deren Organ die Zeitschrift war. Sie verstand sich als „Rundbrief … linker, radikaler Schwuler“ (#11), worüber sie aber auch hinausging. Ich hatte mich als Hete schon seit ein paar Jahren für schwullesbische Fragen interessiert, kannte mich jedoch noch nicht besonders gut aus. Irgendwie dämmerte mir aber in dieser Zeit: Homophobie hat für Männer nicht nur die Dimension des „Schwulenhasses“ und der Gewalt; sie ist auch ein Mechanismus der Konkurrenz und „Entfremdung“ (so nannte man damals in der Linken manches) untereinander, der Zurichtung zum rein heterosexuellen, patriarchal funktionierenden Mann. Das interessierte mich (und ein bisschen aufkeimendes queeres Begehren war auch dabei).

Ausschnitt aus einer Ausgabe: Horoskop für Sternzeichen ZickeIch wusste bereits, dass das Wort „Tunte“, ähnlich wie „schwul“, nicht nur zur Abwertung gebraucht, sondern von radikalen Teilen der Schwulenbewegung gelegentlich zum Empowerment genutzt wurde. Nicht zuletzt wurden in der Figur der Tunte auch stereotype Formen der Geschlechterkonstruktion durch Überzeichnung transparent und Männlichkeitsbilder herausgefordert. Die Tunte war insofern performativer Aktionismus – instantly radical. Gleichzeitig setzte sie in den Comics von Ralf König bereits zum Sprung an auf die populäreren Höhen des Mainstreams („kreisch!“).

In der Tuntentinte gab es Debatten über das Politische im Privaten, Intimen und vor allem Sexuellen, die den engen Rahmen dessen sprengten, was ansonsten in der linken Öffentlichkeit verhandelt wurde. So waren Heteronormativität und Transphobie Themen, bevor diese Begriffe in der deutschsprachigen Debatte gebräuchlich waren. Doch auch Begehren, Konsum und Beziehungsformen wurden engagiert debattiert. Gleichzeitig war die Zeitschrift kreativer und ästhetischer als fast alle DIY-Publikationen dieser Ära (okay, low bar, könnte man einwenden, wenn man eine andere linke Zeitung dieser Zeit zur Hand nimmt). Sie bestach nicht zuletzt mit bedächtig ausgewählten Illustrierten-Ausschnitten und filigranem, oft auch überdrehtem Bildmaterial. Zwischen politischen Artikeln fand sich schon mal ein Rezept für Johannisbeerkuchen, das wiederum mit einem grobkörnigen Bild eines Gesäßes über Springerstiefeln illustriert war. Ein „Sascha Berlinskij“ schrieb seiner Gemeinde regelmäßig Kritische Theorie auf den Lehrplan und bürstete schwule Normen gegen den Strich. Er nahm „Adorno von hinten“ und schrieb über Fußball – was viele Schwule als Provokation empfinden mussten. Überhaupt stellte das Magazin eine Absage dar: an Hetero-Normen und die Dominanzgesellschaft, aber auch an die Anpassung der schwulen Szene (die über die Homoehe diskutierte) oder den nächsten als langweilig und kommerziell empfundenen CSD. Diese kleine Zeitschrift im Zeichen des fünfzackigen Sterns mit Stöckelschuh war aber auch ein Lesevergnügen, denn sie war oft sarkastisch und unglaublich witzig. Die Ausgaben wurden von einem „Institut zur Verzögerung und Beschleunigung der Zeit“ herausgegeben, und damit war schon vieles gesagt.

Ausschnitt aus einer Ausgabe: Text: "eine sogenannten Redaktionssitzung", 3 verschiedenfarbige Schweine übereinander

So ein Projekt steht natürlich in einem Kontext, der weit über die Zeitschrift – besonders in ihrer Funktion als Rundbrief – hinausweist: Es gab bereits ein Tuntenhaus in Ostberlin (nicht das erste seiner Art), die schwule Szene hatte bereits lange vorher einen „Tuntenstreit“ in den 70er Jahren hinter sich, es gab eine Schwule Antifa und den Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz. Und da nicht zuletzt durch Techno der Dresscode auch im heterosexuell dominierten Nachtleben erweitert wurde, erlebte Drag ein gewisses Revival auch dort. Ein Bekannter erzählte mir von der „Tunten-Terror-Tour“, die ihn und einige schwule Genossen (das Wort gab es noch so ein bisschen in diesem Jahrzehnt) 1993 durch den deutschsprachigen Raum führte. Zeitgleich wurde Judith Butler im deutschsprachigen Feminismus sowie in den progressiveren Geistes- und Sozialwissenschaften rezipiert, „Dekonstruktionen“ waren en vogue. Die Tunte, der (vielleicht auch Nicht-)Mann in Drag, gelegentlich grell geschminkt, laut & hochhackig, stand als Provokation des Hetero-Malestreams genau dafür, ähnlich der Butch auf Seite der (vielleicht auch Nicht-)Frauen. Das Wort „queer“ schwappte erstmals aus dem angloamerikanischen Begriffssystem ins Deutsche und trat seinen Siegeszug an: Es versprach gleichsam eine breitere Bewegung gegen den Normalismus des Gender- und Sexualitätssystems, in die sich neben Schwulen, Lesben, Bisexuellen endlich auch diejenigen einreihen konnten, die nicht dem Mann-Frau-Schema entsprachen oder die einen Feminismus gut & richtig fanden, der überkommene Stereotype abschaffen wollte. Im globalisierten Rahmen folgte Ende der 90er die Queeruption, eine Reihe internationaler Festivals, oft in besetzten Häusern, mit Workshops, öffentlichen Aktionen und – eher neu in linken Kontexten – Sex-Partys, die sowohl Ekstase und awareness beinhalten sollten.

Diese Entwicklungen waren in der Tuntentinte ab Mitte der 1990er angelegt, ehe die Digitalisierung ein neues Projekt in die Welt brachte: etuxx.com. Unerreicht waren beide in ihrem schnoddrigen, oft feinsinnigen, manchmal auch brachialen Witz. Die Tuntentinte war eine inspirierende Provokation.

Marc

˄